Freund:innen-schaft – eine Antwort auf die Fürsorgekrise

Fragile Fürsorge

Jeder Mensch braucht Fürsorge. Unser Fürsorgebedürfnis verändert sich im Verlauf des Lebens, für die meisten Menschen in gewisser Weise zyklisch: Am Anfang unseres Lebens steht eine große Abhängigkeit von Fürsorger:innen sowohl auf körperlicher als auch emotionaler Ebene, gefolgt von einer Lebensmitte, in der wir größtenteils Selbstfürsorge leisten können, bis wir zum Ende unseres Lebens tendenziell wieder mehr auf andere angewiesen sind. Unabhängig von Mitmenschen sind wir jedoch nie - ganz im Gegenteil. Unser Wohlbefinden und unsere Zufriedenheit stehen in direktem Zusammenhang mit unseren Beziehungen.

So essenziell fürsorgliche Vernetzung für unser individuelles Glück ist, so elementar ist Fürsorge für eine funktionierende, gesunde Gesellschaft. Entlang der Frage, wie Fürsorge im Miteinander praktiziert wird und verankert ist, entscheidet sich wie sozial und gerecht eine Gesellschaft ist. Unsere „moderne“ Gesellschaft lebt von ausdifferenzierten Fürsorgestrukturen, die im Kern politischer Ausdruck davon sind, inwieweit sich Menschen auf ein kollektives Fürsorgenetz verlassen können.

Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich über Fürsorgestrukturen verfügt, die vielen Menschen Unterstützung und Sicherheit bieten, zeichnet sich zunehmend ab: Viele Menschen fühlen sich einsam und sehnen sich nach mehr Gemeinschaft. Um individuellen und globalen Krisen begegnen zu können, braucht es diese fürsorgliche Verbundenheit. Unsere Handlungsspielräume und (Über-)lebensmöglichkeiten in persönlich schwierigen Lebensphasen und erst recht auf existentiell bedrohten Lebensgrundlagen hängt maßgeblich von unserer kollektiven Vernetztheit ab – es geht schon lange nicht mehr um individuelle Resilienz, sondern um tragende Beziehungen.

Unfreundliche Strukturen

Wie diese Beziehungen aussehen, wie frei wir sie gestalten können (und wollen) ist kein Zufallsprodukt, sondern verwoben in den Stoff, aus dem die uns umgebene Gesellschaft besteht. Wie wir uns selbst mit anderen in Beziehung setzen und für welche Verbindungen wir uns entscheiden, ist weniger eine Frage von Willensstärke oder individueller Kreativität, sondern geprägt durch das, was uns vorgelebt wird: In unserem unmittelbaren Umfeld sowie gesamtgesellschaftlich.

Politische Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die Institution Ehe, begünstigen bestimmte Beziehungs- und Lebensmodelle (vornehmlich heteronormative Kernfamilien). Patriarchale Strukturen und ein kapitalistisches Wirtschaftssystem lassen die Formel Arbeit > Freizeit als wünschenswert erscheinen. Diese Anreize befeuern eine Vereinzelung der Gesellschaft in kleinste soziale Einheiten und machen uns gleichzeitig auf ausgeklügelte Weise glauben, wir wollten alle Dasselbe und würden frei von Zwängen entscheiden.

Diese Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass der Horizont der Möglichkeiten, zwischen denen sich Menschen entscheiden können, kleiner wird. Somit wird die Bedeutung der Beziehungen verschleiert, die nicht Teil aktueller Gesetze, gängiger Erzählungen und gesellschaftlicher Normen sind – wie Freund:innenschaft.